Das Lernen von Studierenden sichtbar machen4.99/5(92)

Ein Praxisbericht von Dr. Miriam Hess, Akademische Rätin am Institut für Grundschulforschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Grundidee des Projekts «ProFee»

Die Hattie-Studie (2009) belegt die hohe Bedeutung guten Feedbacks für das Lernen von Schülerinnen und Schülern. Dabei ist besonders wichtig, dass die Rückmeldungen relevante Informationen zum Ziel, zum Vorankommen und zu den nächsten Schritten enthalten (Hattie & Timperley, 2007). Studien zeigen allerdings, dass Lehrpersonen den Lernenden nur selten solch informative Rückmeldungen geben (z.B. Hattie & Timperley, 2007; Lotz, 2015).

Diese Diskrepanz ist Ausgangspunkt des Lehrforschungsprojekts «ProFee» (Professionell Feedback geben – Lernen mit Videos)[1]. Das Thema Feedback wird hier bereits in die universitäre Lehrpersonenbildung systematisch einbezogen. Dazu werden Lehrkonzepte entwickelt, die den Studierenden ermöglichen sollen, Wissen über Feedback zu erwerben, dieses auf die Analyse von Feedbacksituationen anzuwenden und in eigenen Unterrichtsversuchen erfolgreich umzusetzen.

Lernziele im Rahmen des Projekts

  1. Die Studierenden sollen konzeptuelles Wissen zum Thema Feedback erwerben. Sie sollen wissen, welche Kriterien ein sowohl lern- als auch motivationsförderliches Feedback kennzeichnen.
  2. Die Studierenden sollen ihre Wahrnehmungskompetenz verbessern. Sie sollen lernen, Feedbacksituationen adäquat einzuschätzen und zu beurteilen, inwiefern erteilte Rückmeldungen sinnvoll sind.
  3. Studierende sollen ihre eigene Handlungskompetenz verbessern. Sie sollen lernen, Lernenden tatsächlich lern- und motivationsförderliches Feedback zu erteilen.

Diese anspruchsvollen Kompetenzen scheinen durch rein theoretisch konzipierte Seminare kaum erreichbar. Dem Lernen mit Videos hingegen wird großes Potenzial zugeschrieben (z.B. Blomberg, Renkl, Gamoran Sherin, Borko & Seidel, 2013). Durch die Analyse aufgezeichneter Lehrsituationen können Studierende erworbenes Wissen auf eine praktische Situation anwenden. Dieses analytische Vorgehen lenkt den Blick auf relevante Aspekte des Verhaltens der Lehrperson.

Im ProFee-Projekt werden Lehramtsstudierende angeleitet, ein eigenes Video einer Interaktionssituation mit einem einzelnen Lernenden in Bezug auf ihr eigenes Feedbackverhalten zu reflektieren. Eine besondere Lernchance besteht im mehrfachen Sichtbarmachen von Lehr- und Lernprozessen sowie deren Reflexion. Die Studierenden können dazu angeregt werden, sich in die Denkprozesse der Lernenden hineinzuversetzen. Auch können – insbesondere durch die Arbeit mit mehreren eigenen Videoaufnahmen – eigene Lernfortschritte oder Entwicklungsbedarfe bewusst gemacht werden.

Vorgehen des Lehrforschungsprojekts                                                    

Auch wenn der Einsatz von Videos generell sehr positiv beurteilt wird, sind viele Fragen zu deren Einsatz in der Lehrpersonenausbildung noch ungeklärt. Diskutiert wird beispielsweise, inwieweit «Anleitungen zur Diskussion und Reflexion» (Fischler, 2007, S. 513) hilfreich sind oder aber zu stark einschränken.

Daher werden im ProFee-Projekt drei verschiedene Lernumgebungen miteinander verglichen. Zunächst wird das Lernen mit eigenen Videos einer Lernumgebung ohne den Einsatz von Videos gegenübergestellt. Weiterhin werden zwei verschiedene Auswertungsmethoden der Arbeit mit eigenen Videos verglichen: eine strukturierte, analytisch-kodierende Analyse der Videos und eine eher offene Reflexion des eigenen Feedbackverhaltens.

Um die Wirksamkeit der drei Seminarbedingungen systematisch miteinander vergleichen zu können, werden die Studierenden zu mehreren Zeitpunkten befragt und getestet. Nachfolgende Übersicht veranschaulicht das Vorgehen zur Durchführung und Evaluation der Seminare:

Zu 1. Vorbesprechung

Die gemeinsame Vorbesprechung vermittelt wichtige Informationen zum Seminar und zu dessen Vorbereitung. Den Studierenden wird u.a. erläutert, dass sie noch vor dem Seminar ein Video von sich und einem Lernenden aufzeichnen lassen sollen, in dem sie versuchen, möglichst gutes Feedback zu erteilen. Zudem bietet die Vorbesprechung einen Rahmen für erste Erhebungen:

  • Fragen zu Vorwissen und Vorerfahrungen
  • Vortest zum konzeptuellen Wissen im Bereich Feedback (Lernziel 1), bei dem die Studierenden Feedback definieren und Merkmale guten Feedbacks beschreiben sollen (vgl. Hess, Werker & Lipowsky, eingereicht)
  • Vortest zur professionellen Wahrnehmung (Lernziel 2), bei dem die Studierenden ein speziell zu diesem Zweck produziertes Video einer Lehr-Lernsituation sehen, und das Feedback der videografierten Lehrperson sowohl offen als auch kriterial bewerten sollen

Zu 2. Erste Videoaufnahme

Zwecks Vergleichbarkeit wird den Studierenden eine Aufgabe für die Interaktionssituation vorgegeben: Sie sollen mit den Lernenden erarbeiten, welche Ergebnisse bei Aufgaben des Typs «Zahl minus Spiegelzahl» – z.B. 31-13 oder 42-24 – herauskommen und wie sich dies begründen lässt (nähere Informationen zur Aufgabe vgl. Lotz & Lipowsky, 2015). Die für Lernende unterschiedlicher Altersstufen geeignete Aufgabe wird mit den Studierenden vorab besprochen. Sie erhalten Informationen, um sich den fachlichen Hintergrund sowie mögliche Beweisformen zu erarbeiten. Das Video soll etwa 30 Minuten dauern und wird von Projektmitarbeitenden mit zwei Kameras nach standardisierten Richtlinien aufgezeichnet: Während eine Kamera die Interaktion filmt, fokussiert die zweite auf den Arbeitsplatz und die verwendeten Materialien. Nach der Videografie erhalten die Studierenden einen Bogen für Angaben zur Vorbereitung der Interaktionssituation sowie zur Selbsteinschätzung.

Diese Interaktionssituation kann als Methode des Micro-Teaching verstanden werden, das in der Hattie-Studie (2009) eine sehr hohe Effektstärke von d = 0.88 erreichte. Hierbei schlüpfen (angehende) Lehrpersonen in die Rolle der Lehrenden und üben ihr Instruktionsverhalten in einem geschützten Rahmen, um es anschließend zu reflektieren und zu verbessern.

Zu 3. Seminarveranstaltungen

Die Studierenden werden nach der Vorbesprechung weitgehend parallelisiert auf die drei verschiedenen Seminarbedingungen aufgeteilt, ohne über deren Unterschiede informiert zu sein. In den dreitägigen Blockseminaren wird am ersten Tag eine Einführung in das Thema Feedback – unter besonderer Berücksichtigung des Modells guten Feedbacks nach Hattie und Timperley (2007) – gegeben. Unterschiedlich gestaltet wird nur der zweite Blocktag:

 

Seminar 1:Hess_ProFee_Newletter_Seminar1 Strukturierte, analytisch-kodierende Analyse eigener Videos im Tandem

Die Studierenden arbeiten mit einem/r Partner/in zusammen und analysieren ihre beiden Videos. Jedes vorkommende Feedback wird anhand vorgegebener Kriterien kategorisiert: z. B. Beantworten die einzelnen Rückmeldungen den Lernenden die Frage nach dem Vorankommen, dem Ziel und den nächsten Schritten? Wird ausreichend Wartezeit gewährt? Ist das Feedback motivationsförderlich?

Seminar 2:

Hess_ProFee_Newletter_Seminar2

Offen-reflektierende Auseinandersetzung mit eigenen Videos im Tandem

Auch in diesem Seminar arbeiten die Studierenden in Tandems an ihren Videos, erhalten hierzu aber lediglich folgende Leitfragen für deren Besprechung: An welchen Stellen wurde lernförderliches bzw. motivationsförderliches Feedback gegeben? Welche Aspekte möchte ich beibehalten, was möchte ich verändern? Wie beurteilen wir die Feedbacksituationen beider Videos im Vergleich?

Seminar 3:

Hess_ProFee_Newletter_Seminar3

Seminar ohne Einsatz von Videos

Hier wird das am ersten Tag erarbeitete Wissen noch einmal vertieft, indem die Studierenden in Gruppen weiterführende Texte erhalten und diese den anderen Gruppen mithilfe unterschiedlicher Methoden (Präsentation, Rollenspiel etc.) nahebringen. Zudem lernen sie zahlreiche Methoden zum Erteilen von Feedback kennen, stellen sich diese gegenseitig vor und reflektieren sie vor dem Hintergrund des erlernten Wissens zu lern- und motivationsförderlichem Feedback.

Am dritten Tag laufen die Seminare wieder gleich ab. Die Studierenden können sich noch einmal mit anderen Studierenden über das Gelernte austauschen und sich Ziele für ihre zweite Videoaufnahme setzen und diese notieren. Zu dieser Aufnahme erhalten die Studierenden in diesem Rahmen auch weitere Informationen. Außerdem werden die Nachtests zum konzeptuellen Wissen und zur professionellen Wahrnehmung durchgeführt.

Zu 4. Zweite Videoaufnahme

Für die zweite Aufnahme arbeiten die Studierenden mit demselben Lernenden zusammen – diesmal sollen sie aber an einer Aufgabe mit Zahlenhäusern («Zahlen ziehen um») arbeiten (z.B. Müller & Wittmann, 1994). Wiederum soll ein Muster entdeckt und begründet werden. Auch hier füllen die Studierenden einen Fragebogen zur Vorbereitung und zur Selbsteinschätzung aus.

Die Videos aus dem Vor- und Nachtest werden im Projekt auch zur Überprüfung der Erreichung des dritten Lernziels – der Verbesserung der Handlungskompetenz – genutzt. Hierzu werden sie systematisch mit einem hoch inferenten Schätzsystem ausgewertet. Einerseits dient dies der Evaluation der Seminare. Andererseits erhalten die Studierenden abschließend das Ergebnis dieser Auswertungen und damit eine differenzierte Rückmeldung zu ihrem Feedbackverhalten von außen.

Zu 5. Abschließende Reflexion der Studierenden

Die letzte Aufgabe der Studierenden besteht in einer schriftlichen Reflexion der eigenen Videos. Dabei sollen sie sich auf ihr Wissen zum Thema Feedback beziehen und ihre Entwicklung von Video 1 zu Video 2 mit Stärken, Schwächen und Verbesserungsvorschlägen betrachten. Außerdem füllen sie einen letzten Fragebogen zu ihrem selbst wahrgenommenen Lernzuwachs und zum Seminar aus.

Erste Ergebnisse und Ausblick

Erste Ergebnisse einer Pilotstudie mit 54 Lehramtsstudierenden der Universität Kassel zeigen Vorteile des ersten Seminars – der strukturierten, analytisch-kodierenden Analyse eigener Videos im Tandem – vor allem gegenüber der Arbeit ohne Videos, teilweise aber auch gegenüber der offen-reflektierenden Auseinandersetzung mit den eigenen Videos. Differenzierte Ergebnisse hierzu werden aktuell für die Publikation vorbereitet.

Das Lernen mit Videos hat nicht nur Vorteile in den Bereichen professionelle Wahrnehmung und Handlungskompetenz, sondern auch für die Erweiterung konzeptuellen Wissens. Dies verdeutlicht, wie bedeutsam die direkte Anwendung erworbenen Wissens ist. Durch die Analyse eigener Videos setzen sich die Studierenden vermutlich tiefgehender mit den Qualitätskriterien von Feedback auseinander.

Seminare dieser Art verlangen Studierenden die Bereitschaft ab, sich mit dem eigenen Lehrverhalten kritisch auseinanderzusetzen und erfordern einen höheren Arbeitsaufwand als andere Lehrveranstaltungen. Die Rückmeldungen der Studierenden verdeutlichen jedoch, dass sich in ihren Augen dieser Aufwand lohnt.

Aktuell wird das Projekt an der Universität Erlangen-Nürnberg weitergeführt, indem weitere Seminarbedingungen in ihrer Wirksamkeit überprüft werden. So wird statt mit eigenen ausschließlich mit fremden Videos gearbeitet. Außerdem werden verschiedene Formen der strukturierten Auseinandersetzung mit den Videoaufnahmen verglichen. Während die Studierenden in einem Seminar – vergleichbar mit dem dargestellten Seminar 2 – jedes einzelne Feedback nach vorgegebenen Kriterien auswerten (niedrig inferente Kodierung), erhalten die Studierenden in einem anderen Seminar Items, mit denen sie die Qualität der Rückmeldungen übergreifend für die gesamte Interaktionssituation analysieren (hoch inferentes Rating).

Interessant wäre, das Konzept auf die berufliche Weiterbildung von Lehrpersonen auszuweiten.

 

Quellen

Blomberg, Geraldine, Renkl, Alexander, Gamoran Sherin, Miriam, Borko, Hilda & Seidel, Tina (2013). Five research-based heuristics for using video in pre-service teacher education. Journal for Educational Research Online, 5(1), S. 90-114.

Fischler, Helmut (2007). Videographierte Unterrichtsszenen als Reflexionsanstöße. In D. Höttecke (Hrsg.), Naturwissenschaftlicher Unterricht im internationalen Vergleich (S. 512-514). Münster: Lit.

Hattie, John A. C. (2009). Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-analyses relating to achievement. London: Routledge.

Hattie, John A. C. & Timperley, Helen (2007). The power of feedback. Review of Educational Research, 77(1), S. 81-112.

Hess, Miriam, Werker, Katharina & Lipowsky, Frank (eingereicht). Was wissen Lehramtsstudierende über gutes Feedback? Zur Erfassung und Entwicklung konzeptuellen Wissens im Rahmen universitärer Seminare.

Lotz, Miriam (2015). Kognitive Aktivierung im Leseunterricht der Grundschule. Eine Videostudie zur Gestaltung und Qualität von Leseübungen im ersten Schuljahr. Wiesbaden: VS.

Lotz, Miriam & Lipowsky, Frank (2015). Die Hattie-Studie und ihre Bedeutung für den Unterricht. Ein Blick auf ausgewählte Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion. In Mehlhorn, Gerlinde, Schöppe, Karola & Schulz, Frank (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 97-136). München: kopaed.

Müller, Gerhard N. & Wittmann, Erich C. (1994). Handbuch produktiver Rechenübungen. Band 1. Vom Einspluseins zum Einmaleins. Leipzig: Klett.

[1] Das Projekt ProFee wurde von Juli 2015 bis November 2016 von der Zentralen Lehrförderung der Universität Kassel im Rahmen der Förderlinie Lehrinnovation gefördert.

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